Prozessorientierte Psychologie


„Die Kraft des Träumens führt den Menschen über die Grenzen seiner Identität in unbekannte und erneuernde Aspekte seiner selbst. Die Methodik der prozessorientierten Tanz- und Bewegungstherapie vermittelt im Wesentlichen die Arbeit an der Grenze von Wachstumsprozessen.“ Zitat:M. Rhyner: Kunsttherapiemethoden

Der begründer der Methodik der prozessorientierten Körpertherapie ist Arnold Mindell und da prozessorientierte Psychologie unglaublich spannend, vielfältig und in zahlreichen Büchern von ihm beschrieben und auch mit vielen praktischen Beispielen seiner Arbeit dokumentiert wurde, fällt es mir unglaublich schwer, eine gute Zusammenfassung zu schreiben. Ich erlaube mir daher einfach einige Auszüge aus seinen Büchern ( „Traumkörper und Meditation“, und„ der Leib und die Träume“),zu zitieren, die einen kleinen Einblick in diese spannende Materie geben.:

„Gewöhnlich stelle ich mir Prozessarbeit wie einen Eisenbahnzug vor, der an verschiedenen Stationen hält und dann weiterfährt. Üblicherweise denken Menschen in Begriffen wie „Stationen“ oder „Zuständen“. Wir sagen, dass jemand ein bisschen verrückt ist, krank ist oder stirbt. Das sind jedoch nur die Namen der Stationen. Dagegen bin ich am Ablauf der Dinge interessiert, d.h. nicht am Namen des Tumors, sondern an der Art, wie er sich entwickelt, was er tut und was er der betreffenden Person mitteilt. Mich fasziniert die Bewegung des Zuges, und sie ist das, was ich Prozess nenne. Eine anderer Analogie, an die ich denke, ist die eines Flusses. Ein Fluss fliesst und fliesst. Die Quelle ist meist sehr friedlich, aber unterhalb, dort, wo wir es nicht sehen können, fliesst das tiefe Wasser oder der sekundäre Prozess an bedrohlichen Ungeheuern, lauernden Untiefen und beängstigenden Strudeln vorbei.
Die Prozessarbeit bewahrt mich davor, Urteile zu fällen. Wenn ich prozesshaft denke, kann ich nicht mit Begriffen wie gut - schlecht, krank - gesund oder Vergangenheit - Zukunft denken, dann kann ich nonverbal, mit trancehaften Zuständen oder mit Meditation arbeiten, und ich bleibe nicht in Worten stecken. Wenn ich in Prozessen denke, betrachte ich die Gesamtsituation. Die verschiedenen Kanäle des Prozesses sind wie kleine Bäche, die in den grösseren Fluss münden. Wenn man nichts über sie weiss, dann wird man nur mit dem Körper oder nur mit den Träumen seiner Klienten arbeiten, und man wird die Biegungen und Wendungen des Flusses, die erst die Unterschiede in der Welt ausmachen, verpassen.

Im Zentrum der Prozessarbeit steht ein mitfühlendes Bewusstwerden unserer eigenen Wahrnehmung. Jedes psychologische oder meditative Vorgehen beruht auf philosophischen Gedanken, und das vorherrschende Paradigma der Prozsessarbeit ist die mitfühlende Zuwendung.

Dies ist jedoch nicht genug, wir brauchen auch eine sogenannte „Kochmethode“. Ein Alchemist würde den Bewusstseinsprozess, die prima materia nennen, die magische Substanz, die gekocht werden muss, der Stoff,der sich verwandeln wird. Das Grundmaterial ist der Prozess: Signale oder Informationsteile, die ständigem Wechsel unterliegen. Der Alchemist gibt den Prozess (die Signale) in den Topf der Meditation (Brennpunkt der Aufmerksamkeit) und kocht (amplifiziert) ihn bis zur Vollendung (Gold). Was wir schliesslich bekommen, kann etwas sein, von dem wir nicht einmal wussten, dass es uns fehlt- etwas kostbares und Lebensnotwendiges, dass wir darüber sogar unsere ursprünglichen Ziele vergessen könnten. Das Gold des Alchemisten ist tiefere Verbundenheit mit seinen Erfahrungen und manchmal sogar Einblick in seine eigenen Wesensnatur oder die der anderen. Dieses Gold erscheint genau in der Form, die er braucht. Was auch immer schliesslich geschieht, es wird ein Prozess sein, der ihn mit dem inneren Mittelpunkt allen Geschehens verbindet.

Prozess ist Information, die uns auf spezifischen Wegen oder Kanälen erreicht, wie Sehen ,Hören, Bewegung, Propriozeption (Körpererfahrung) , Beziehungen und die Welt.

Traumkörperarbeit ist ein Forschungsgebiet für sich. Bis jetzt besassen wir die Methode der aktiven Imagination von C.G. Jung, im wesentlichen introvertiertes Arbeiten. Traumkörperarbeit übernimmt Jungs Philosophie der aktiven Imagination, besonders seine Beziehung zum Prozess der Inidividuation, und erweitert sie so, dass sie mehrkanalig wird. Das gibt uns einen vollständigeren Weg, auf dem wir auch kinästhetisch und propriozeptiv mit uns selbst arbeiten können. Traumkörperarbeit ist im wesentlichen, sich eines Signals bewusst zu werden, den Kanal, in dem wes sich ausdrückt, zu bestimmen, und dann dieses Signal zu amplifizieren, bis der Prozess ins Rollen kommt.
Hier einige Kanäle und wie mit ihnen „meditiert“ werden kann.........
Körpergefühl oder Propriozeption: Hata-Yoga, Atembeobachtung im Zen, Massage, autogenes Training, Entspannungstechniken, Biofeedback
Visualisation: Auf einen Punkt gerichtete Betrachtung, Yantra-Meditation, Traumarbeit, Aktive Imagination
Hören: Trommeln, Mantra- Wiederholungen, Gebet, Innerer Dialog
Beziehungen: Tantra-Yoga, Taoistische Alchemie, Siddha-Yoga
Weltphänomene: Visionssuche der amerikanischen Indianer
( eingene Anmerkung: Die Tanztherapie hat diese Kanäle etwas differenziert und erweitert, hier einige zusätzliche Kanäle mit denen wir arbeiten:)
• interozeptiv (innerkörperliche Wahrnehmung)
• affektiv (Gefühl)
• Beziehung (Mischkanal)
• spirituell (Mischkanal),
• gustatorisch (Geschmackssinn)
• olfaktorlisch (Geruchssinn),
• taktil
alle Kanäle ausser interozeptiv gibt es extrovertiert und introvertiert


Wir benutzen ständig alle oben genannten Kanäle( und noch mehr), aber nur wenige, durch die wir uns selbst identifizieren. Die Kanäle, die wir häufig und völlig bewusst gebrauchen, sind durch unsere Bewusstsein „ besetzt“. Wenn wir sie unabsichtlich oder zufällig benutzen, sind sie durch unser Bewusstsein „ nicht besetzt“, wenn sie auch möglicherweise durch unserer unbewusste Wahrnehmung benutzt sind. Aber wir beachten sie einfach nicht. Wenn ein Kanal wie die Visualisation „besetzt“ ist, werden wir ein Gefühl der Vertrautheit haben, wenn wir uns auf ihn konzentrieren. Ist ein Kanal „nicht besetzt“, wird uns ein unheimliches, traumartiges oder weit entferntes Gefühl überkommen, sobald wir ihn benutzen. Der meistens von uns am wenigsten entwickelte Kanal ist das Köpergefühl oder die Propriozeption. Dieser Kanal ist normalerweise durch unsere bewusste Wahrnehmung nicht besetzt. Das bedeutet, dass wir auf unsere Körpertemperatur sowie auf Verspannungen oder Druck nicht achten. Das bewusste Hinlenken unserer Aufmerksamkeit zu einem unbesetzten Kanal erzeugt einen veränderten Bewusstseinszustand; es „hält die Welt an“ denn das bewusste fühlende Wahrnehmen der Welt ist fremdartiger für uns, als sie sehend wahrzunehmen.

Propriozeption oder Körpergefühl. Jede Übung oder Meditationsweise, bei der wir propriozeptiv wahrnehmen sollen, zum B. das Spüren der Atmung, der Muskulatur oder des Herzschlages, führt unwillkürlich zu einem veränderten Bewusstseinszustand.
Rituale wie die Zen- Meditation (Konzentration auf den Atmen) oder Asanas, durch ein Achten auf die Grenzen der Muskelkraft, geben Zugang zu propriozeptiven Erfahrungen und eine Ruhepause von unserer alltäglichen Welt. Bei autogenem Training wird die Wahrnehmung auf Spannung und Temperatur in verschiedenen Köperbereichen geachtet, die Muskulatur entspannt und die Aufmerksamkeit von den Hauptkanälen abgeleitet, um Erfahrungen eines bislang unbekannten Neulands zuzulassen. Massage über Berührung den taktilen Kanal.

Visualisierungs-Übungen, durch die das Sehen auf geometrische Muster, wie Yantras oder Mandalas gelenkt wird, führen zu innerem Frieden und Zentriertheit, weil wir dadurch auf harmonische Strukturen programmiert werden und die Augen nicht mehr allem folgen was gerade auftaucht. Veränderte Bewusstseinszustände entstehen nicht durch Wechseln von Kanälen, sondern durch Blockieren eines Hauptkanals, in den dann neue Information eingegeben wird. Die Beliebtheit vieler Meditationsrituale hat teilweise mit der Sehnsucht der Menschen nach bewusstseinsbeeinflussenden Drogen, Fernsehen und Kontakt mit Menschen zu tun. Die Menschen haben unbewusst das Bedürfnis, Kanäle zu wechseln, aus dem primären Prozess auszubrechen, sich von Schmerzen zu befreien und Leben zu transformieren.

Rituale des Hörens - Trommeln, laute Musik oder sogar Fernsehwerbung können unseren Hörkanal ausfüllen und damit den normalen inneren Dialog blockieren, so dass ein veränderter Bewusstseinszustand herbeigeführt wird. Rezitieren von Mantras, Wiederholen bestimmter Gebete, Singen oder Summen haben die gleiche Wirkung. Signale des Hörens führen auf zwei verschiedenen Weisen zu Trancezuständen. Entweder löschen sie den gewöhnlichen inneren Dialog aus, oder sie lenken die Konzentration auf die Propriozeption. Denn Rhythmus und Musik können auch im Körper gefühlt und nicht nur gehört werden. Wir wissen alle, dass wir Singen über Vibration in unserer Kehle, im Kopf, der Lunge und im Rücken spüren. Ein Kanalwechsel und das Finden des eignen Liedes, selbst im grössten Durcheinander, kann zur Veränderung der ursprünglichen Verfassung führen.

Aktive Imagination-Jungs - Das Konzept der atkiven Imagination ist ein wirkungsvolles Ritual des Sehens und Hörens. Man hört und sieht das Bild eines Traumes oder einer Phantasiefigur. Diese Auseinandersetzung mit dem Unbewussten, wie Jung es nannte, verändert nicht nur den Betrachter, sondern auch das bearbeitete Material. Obwohl die aktive Imagination normalerweise die Form eines inneren Dialoges annimmt, kann man die Traumerfahrung auch malen.

Kinästhesie oder Bewegung - Prozessorientierte Meditation erweitert die aktive Imagination und kann dann angewandt werden, wenn der Sehkanal wechselt. Wenn wir eine Traumfigur sehen und dann unbewusst anfangen, uns zu bewegen. Die Information, die zuerst in Form einer Vision erschienen ist, taucht jetzt in einer Bewegung auf und führt den Prozess in diesem Kanal weiter. Jungianer übertrugen die aktive Imagination in den Bewegungsbereich und nannten diese Vorgehensweise „Authentische Bewegung“ (Withehouse) Wie die Propriozeption ist auch die Kinästhesie oder Bewegung ein wenig entwickelter Kanal für die meisten von uns.......Auch das Drehen und Wirbeln der Derwische hat die Verwandlung des Alltagsbewusstsein zum Ziel, wodurch das Individuum das Göttliche erfahren kann.

Beziehungen - Auch der Beziehungskanal ist ein Wahrnehmungskanal, weil wir uns selbst oft nur über andere erfahren. Obwohl Körperkontakt, Sehen und Sprechen ganz eindeutig eine wichtige Rolle spielen, kann die Beziehung also solche nicht auf Propriozeption, Sehen, Bewegung, oder auditorische Phänomene eingeschränkt werden, weil zwischenmenschliche Verbindungen sehr viel mehr umfassen als nur die Summe ihrer wesentlichen Teile.

Weltkanal - Für den amerikanischen Indianer ist die Welt ein Informationskanal, sowie wie dies für andere Menschen Träume oder Köpererfahrungen sind. Mutter Erde ist für den Indianer ein Kanal und eine Quelle der Weisheit. Die Visionssuche (Vision Quest) ist die wichtigste religiöse Zeremonie der nordamerikanischen Indianer; es ist die Suche nach Unterstützung und Führung durch eine höhere Macht, die Erde.


Für das grösste Problem halte ich die Unfähigkeit der Menschen mit ihren Gefühlen umzugehen. Nur einer unter einer Million von Müttern oder Vätern sagt zu den eigenen Kindern: „Sage mir, wie fühlst dich in deinem Bauch, in deinen Beinen, in deinen Gelenken? Erzähle mir von deinem Kopfweh“ Im Gegenteil, unsere ganze Kultur lehnt die Empfindung von Schmerzen ab. Die Menschen haben noch immer nicht gelernt, sich selbst zu lieben, aber sie müssen es lernen, sie müssen eine andere Beziehung zu sich selbst und ihrem Körper aufbauen. Es ist wichtig, Schmerzen zu akzeptieren, sie auszuhalten und sie zu spüren. Viele negative Projektionen entstehen aus Blockierungen bestimmter Kanäle, aus Unbewusstheit von Gefühlen und Propriozeptionen. Eine positive Projektion kann genauso gefährlich sein, wie eine negative. Alle unsere Körpererfahrungen werden noch immer nach aussen projeziert, das bedeutet, dass man nicht gelernt hat, sich selbst zu lieben. Tatsächlich ist es schwieriger, eine positive Projektion zu integrieren als eine negative, denn sie ist viel angenehmer. Dieser Mangel an Beziehung zum eigenen Köper macht die Menschen sehr zurückhaltend und vorsichtig in Bezug auf Körperarbeit..........Prozessorientierte Traumkörperarbeit bestimmt die Grenze zum unbesetzten Kanal und arbeitet damit am Traum, ohne ihn je gehört zu haben.

Wenn Situationen in einem Wahrnehmungskanal zu schmerzhaft oder zu stark werden, wenn sie ihre Grenze erreicht haben, dann wechselt die Erfahrung plötzlich und selbstständig von einem Kanal in einen anderen .Der Wechsel von einem Kanal zum anderen ist für mich einer der interessantesten Aspekte der Traumkörperarbeit......Fährt man lange genug mit der Verstärkung und Hervorhebung fort, wird etwas erstaunliches passieren: Nach einer Weile wird man die absolute Grenze dessen, was man ertragen oder aushalten kann, erreichen, und es wird automatisch ein Wechsel des Kanals stattfinden. Das heisst, dass die Erfahrung von Schmerz und Krankheit plötzlichen aus dem Bereich des Spürens herauswechselt, und bevor man weiss, was passiert ist, wird man etwas sehen, hören oder sich bewegen....Hat ein Wechsel des Kanals stattgefunden, ist man erstaunt , wie subtil und schnell die Kanäle wechseln. Wenn man will, kann man zu seinem Schmerz zurückkehren, aber es ist besser, wahrzunehmen, dass der Prozess aus dem propriozeptiven in einen auditiven oder visuellen Kanal gewechselt hat. Die wichtigste Aufgabe ist es nun, ein geschickter und unvoreingenommener Beobachter zu sein, und dem Wechsel mit dem der Traumkörper seine Gestalt verändert, zu folgen. Nun sollte man versuchen, den Traumkörperprozess in diesem neuen Kanal verstärken. Ganz gleich, wie man mit seinen Visionen, Stimmen oder Bewegungen umgeht, das Wichtigste ist die Wahrnehmung dessen, dass man einen sekundären Gesichtspunkt in Form eines Bildes, eines Tones oder einer Bewegung hat, welcher das vorher empfundene Körpersymptom widerspiegelt. Jetzt weiss man, übersetzt in eine andere Sprache, was der eigene Körper tut. Dieser sekundäre Kanal ist der Weg des Traumkörpers, der versucht, sich mitzuteilen.

Wenn wir unserem inneren Prozess folgen, wird es zu gegebenen Zeiten wichtig sein, ein Mandala zu visualisieren, auf dem Boden zu trommeln, für Gott zu tanzen, den Atem zu zählen, sich auf jemanden zu konzentrieren, den Wald nach einer Antwort zu durchsuchen oder unseren Partner zu lieben. Unser individueller Prozess kann uns jedes bekannte Ritual beibringen, er kann uns aber auch in die Tiefen unbekannter Erfahrungen tauchen, die bisher noch von keinem Meditationshistoriker aufgezeichnet worden sind.